DIE BONNER STOTTERTHERAPIE – INTENSIV-STATIONÄRE INTERVALLTHERAPIE IN DEUTSCHLAND FÜR JUGENDLICHE UND ERWACHSENE
BONN STUTTERING THERAPY – INTENSIVE INPATIENT INTERVAL THERAPY IN GERMANY FOR ADOLESCENTS AND ADULTS
Bonn Stuttering Therapy is stationary interval therapy for adolescents and adults. In addition to reducing the subsequent psychosocial problems by learning modification and fluency shaping techniques, this combination approach also includes comprehensive measures for transfer support and relapse prevention. The individual therapy modules are presented and their implementation is explained. The superior effectiveness of this patient-oriented therapeutic approach is proven by a survey of the long-term therapeutic effects in linguistic and personal terms. In terms of organisational form and duration of treatment, Bonn Stuttering Therapy is a unique offer of therapy in Germany, which is primarily intended for severe and severely affected stutterers.
Keywords:
stuttering – disturbance of speech fluency – Bonn Stuttering Therapy – young people and adults – combination approach – patient-oriented – BLESS
Autoři:
Müller Thilo 1; Co-Authors:; Prü Holger 2; Richardt Kirsten 3
Vyšlo v časopise:
Listy klinické logopedie 2021; 5(1): 16-23
Kategorie:
Hlavní téma
Souhrn
Bei der Bonner Stottertherapie handelt es sich um eine stationäre Intervalltherapie für Jugendliche und Erwachsene. Neben dem Abbau der psychosozialen Folgeproblematik und dem Erlernen von Modifikations- und Fluency-Shaping- Techniken sind im Rahmen dieses Kombinationsansatzes auch umfassende Maßnahmen zur Transferunterstützung und Rückfallprophylaxe zentrale Bestandteile. Die einzelnen Therapiebausteine werden vorgestellt und in ihrer Umsetzung erläutert. Die hohe Wirksamkeit dieses patientenorientierten Therapieansatzes wird durch eine Erhebung der langfristigen Therapieeffekte in sprachlicher und persönlicher Hinsicht belegt. In Bezug auf Organistationsform und Behandlungsdauer gilt die Bonner Stottertherapie in Deutschland als einzigartiges Therapieangebot, das in erster Linie für schwer und schwerst betroffene Stotternde vorgesehen ist.
Klíčová slova:
Stottern – Redeflussstörung – Bonner Stottertherapie – Jugendliche und Erwachsene – Kombinationsansatz – patientenorientiert – BLESS
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Einleitung
Der Bereich der Stottertherapie ist heute gekennzeichnet durch eine schier unüberschaubare Anzahl unterschiedlichster Therapieangebote. Abhängig vom Patientenalter finden sich neben etablierten und anerkannten Methoden, wie z. B. Sprech- und Verhaltensmodifikationstrainings auch weniger erprobte oder sogar umstrittene Behandlungsansätze, wie z. B. isolierte Atemtrainings oder Hypnose. Gerade die letztgenannten Verfahren erfreuen sich vor allem dank medienwirksamer TV-Berichterstattung größter Popularität – trotz fehlender empirischer Evidenznachweise. Die inflationäre Entwicklung in Bezug auf stottertherapeutische Angebote ist zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass beinahe jedwede Veränderung des Sprechmusters innerhalb kürzester Zeit zu einer deutlichen Reduktion der Symptomatik führen kann: „[…] people who stutter are likely to speak fluently as soon as they adopt almost any novel manner of speaking.” (Bloodstein & Ratner 2008, S. 343). Offenbar ist eine kurzfristige Verringerung der sicht- und hörbaren Symptomatik also relativ leicht zu erreichen, was in aufmerksamkeitserregenden Vorher-Nachher-Videofilmen meist eindrucksvoll beobachtet werden kann. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, wie dauerhaft die erzielten Erfolge sind bzw. ob sich das im Therapieraum Erlernte auch uneingeschränkt auf den Alltag übertragen lässt.
Stottern ist eine komplexe, höchst individuelle und äußerst vielschichtige Störung, die nicht nur den Redefluss, sondern viele weitere Aspekte des alltäglichen Lebens der Betroffenen negativ beeinflusst: Die zahlreichen Begleitsymptome und Folgeprobleme (sprechmotorisch, körperlich, emotional, kognitiv und sozial) haben sich bei vielen jugendlichen und erwachsenen Stotternden im Laufe ihrer Stotterbiografien zu einer komplexen Gesamtproblematik mit entsprechenden Auswirkungen auf die gesamte Lebensgestaltung entwickelt (Wendlandt 2009). Demzufolge muss all dies in einer ganzheitlichen Konzeption Gegenstand der therapeutischen Intervention sein. In einem derartigen, an der ICF orientierten Verständnis definiert sich Therapieerfolg als das Maß an Zunahme von stotterspezifischer) Lebensqualität und Lebenszufriedenheit.
Da sich Stottern wegen der Unterschiede stotternder Menschen hinsichtlich Symptomatik, Persönlichkeit, sozialer Umwelt und anderer Variablen als zutiefst individuelle Störung zeigt, ergibt sich die Forderung nach einer patientenorientierten Vorgehensweise. Somit ist ein Bausteinkonzept unverzichtbar (Hansen & Iven 2010), das die relevanten – auf die komplexe Gesamtproblematik Stottern bezogenen – Therapiebausteine erfasst und diese mit verschiedenen zielgerichteten, effizienten und wissenschaftlich begründbaren Inhalten und Methoden besetzt. Behandlungsansätze, die in einem weitgehend standardisierten Ablauf nach dem Prinzip „Alle-brauchen-das-Gleiche“ handeln, können der Zielsetzung einer patientenorientierten Vorgehensweise nicht entsprechen.
In der Therapie des Stotterns bei Jugendlichen und Erwachsenen gelten seit Jahrzehnten Modifikations- und Fluency- Shaping-Ansätze als die anerkannten Therapieverfahren. Die Effizienz dieser beiden Therapierichtungen wurde im Rahmen einer rückblickenden Patientenbefragung als gleichwertig nachgewiesen (Sommer 2012). Die Erfahrungen belegen allerdings, dass einzelne Stotternde besser auf Stottermodifikation, andere besser auf Fluency Shaping ansprechen. Anders als im angloamerikanischen Raum, wo die Kombination beider Ansätze nach Natke und Alpermann (2010, 97) schon seit langem Verbreitung findet (z. B. Ham 1986, Kuhr 1991, Starkweather & Givens- Ackermann 1997, Gregory 2003, Guitar 2006), wird in Deutschland in der Regel an einem einseitigen „Entweder-oder“- Behandlungsansatz festgehalten (Zückner 2012). Diese oft kontrovers geführte, nach Wendlandt von „Abgrenzungs- und Profilierungsgehabe“ (2010, S. 16) gekennzeichnete Diskussion ist nicht mehr zeitgemäß.
So sind bei der Behandlung komplexer Störungsbilder in allen möglichen medizinisch-therapeutischen Bereichen integrative Ansätze Standard. Daher verwundert es, dass in der Therapie des Stotterns weiterhin meist an einer dogmatischen Sichtweise Stottermodifikation versus Fluency Shaping festgehalten wird, obwohl die Erkenntnis, dass es nicht die Therapie des Stotterns gibt, anerkannt ist (Natke & Alpermann 2010, Zückner 2012); aufgrund fehlender wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Indikationsstellung nicht vor einer Behandlung entschieden werden kann, welcher Therapieansatz für welche Betroffenen die prognostisch günstigsten Ergebnisse erwarten lässt (Wendlandt 2010); die Kombination beider Ansätze einen optimalen Zugang bietet, indem jeder Therapieteilnehmer aus der Vielzahl ganz unterschiedlicher Zielsetzungen, Inhalte und Methoden ein individuell auf ihn abgestimmtes Therapieprogramm erhalten kann, wodurch ein möglichst patientenorientierter Zugang ermöglicht wird (Prüß & Richardt 2010); sich aufgrund der genannten Faktoren ableiten lässt, dass durch die Integration von Stottermodifikation und Fluency Shaping in ein umfassendes Gesamtkonzept der Behandlungserfolg gesteigert werden kann. In diesem Rahmen ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass Begriffe wie Ganzheitlichkeit, Ressourcenorientierung, Methodenvielfalt u. a. nicht per se ein Merkmal für eine qualitativ gute Therapie darstellen. Vielmehr bergen sie in einem unreflektierten Verständnis die Gefahr der Verwässerung im Sinne eines wenig professionellen stottertherapeutischen Vorgehens. Erst wenn diese Termini mit relevanten und konkreten Inhalten und darauf jeweils bezogen zielgerichteten und effizienten Methoden besetzt werden, erhalten diese Bezeichnungen die notwendige Substanz.
In den letzten beiden Jahren kommen zudem auch andere, vornehmlich aus der Psychotherapie stammende Therapiekonzepte hinzu, wie z. B. traumapädagogische Aspekte oder diverse Bausteine aus der Ego-State-Therapie nach John & Helen Watkins. Insbesondere diverse Elemente einer tiefgreifenden Psychoedukation ergänzen den ersten fünfwöchigen Behandlungsblock und runden das Gesamtkonzept somit umfassend ab.
Organisation der Bonner Stottertherapie
Die Bonner Stottertherapie ist konzipiert als stationäre Intervall-Therapie, in der 12 Erwachsene und Jugendliche im Alter ab 14 Jahren aus dem gesamten Bundesgebiet in einem festen Kurssystem behandelt werden. Der Erstkontakt erfolgt im Rahmen eines Informations- und Beratungstags, der neben der ausführlichen Vorstellung des Konzepts die individuelle Abklärung der Indikation für die Maßnahme einbezieht. Die Phasen der Intervallbehandlung gliedern sich in fünf und drei Wochen Haupttherapie sowie zwei einwöchige Nachbehandlungen. Der Einsatz von fünf Stottertherapeuten gewährleistet eine ganztägige Therapie, die in Großund Kleingruppen sowie in Einzeltherapie stattfindet. Zur Unterstützung des Transfers am Heimatort fahren die Patienten an jedem Wochenende nach Hause. Die Schüler erhalten täglich Unterricht durch Fachlehrer in einer Schule auf dem Klinikgelände, sodass nach Therapieende in aller Regel ein problemloser Anschluss an den Leistungsstand der Heimatschule sichergestellt ist. Die Behandlungskosten werden von den gesetzlichen bzw. privaten Krankenkassen übernommen.
Therapiebausteine
Therapiebausteine der Bonner Stottertherapie Diagnostik Unter Berücksichtigung der anamnestischen Daten erfolgt im Rahmen der diagnostischen Abklärung die Erfassung der stottermotorischsprechbezogenen wie auch emotionalkognitiven und sozialen Aspekte, wobei sämtliche relevanten Kontexte (Familie, Freunde, Bekannte, Telefonieren, Ansprechen Fremder, Schule/Ausbildung/Beruf) einbezogen werden. Im Rahmen der Erstgespräche wird die Kern- und Begleitsymptomatik hinsichtlich Art, Stärke und Häufigkeit genau analysiert. Im Weiteren wird exploratisch erfasst, ob und inwieweit sich dies in den genannten Kontexten zeigt bzw. davon abweicht. Gleichermaßen werden das Ausmaß der emotionalen Belastung (Angst, Scham u. a.) wie auch die persönlichen Einstellungen und Bewertungen bezüglich des Stottern ermittelt. Ferner sind Art und Ausprägung des personenbezogenen und situativen Vermeidungsverhaltens, die Reaktionen der Sozialpartner wie auch der Einfluss des Stotterns auf den privaten und schulischen/beruflichen Bereich diagnostisch von zentraler Bedeutung. Auch werden der subjektive Leidensdruck, die intrinsische Motivation und die individuelle Zielsetzung erfragt. Des Weiteren gilt es gegebenenfalls vorliegende Einflussgrößen wie Mehrsprachigkeit, bisherige Therapieerfahrungen u.a. diagnostisch abzudecken. Da die Instabilität der Symptome alle Versuche zur standardisierten Quantifizierung des Stotterns ad adsurdum führt (Hansen & Iven 2010), verzichten wir bei der Erfassung der sprechbezogenen Symptomatik bewusst auf die Verwendung quantitativer Erhebungsinstrumente. Das nach Zang (2010) am häufigsten angewandte Verfahren dieser Art ist das SSI-3 von Riley (1994, deutsche Übersetzung Sandrieser & Schneider 2008), das nach unserer Auffassung jedoch erhebliche methodische Mängel aufweist. So wird beispielsweise das Vermeidungsund Aufschubverhalten nicht erfasst. Auch ist die Abgrenzung zwischen Stottersymptomatik und erfolgreich eingesetzter Modifikationstechnik nicht trennscharf gegeben. Insgesamt überrascht es nicht, dass die Validität und die Reliabilität beim SSI-3 angezweifelt werden (Guitar 1998, McCauley 1996, Hansen & Iven 2010). Ferner „bestehen erhebliche Zweifel an der Durchführungsobjektivität. (…) Es fragt sich, was ein derart oberflächliches Instrument so populär macht, dass es auch im deutschsprachigen Raum recht unkritisch zur Diagnose des Schweregrades (…) empfohlen wird“ (Hansen & Iven 2010, S. 75).
Therapieeinstimmung
Im Rahmen der vorbereitenden Maßnahmen ist eine umfassende Einstimmung immer Bestandteil der Bonner Stottertherapie, da diese einen erfolgreichen Therapieverlauf maßgeblich unterstützt. Wie alle Erfahrungen zeigen, wirkt sich die Einsicht in die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit anstehender therapeutischer Schritte auf Faktoren wie intrinsische Motivation, aktive Eigenarbeit sowie Selbstverantwortlichkeit aus, die wiederum entscheidende Einflussgrößen für den Therapieerfolg sind. Aus diesem Grunde ist die Vermittlung von stotterspezifischen und therapierelevanten Informationen Gegenstand der Therapieeinstimmung. Dies umfasst folgende Themenbereiche: Allgemeine Informationen zum Stottern, Pathogenese des Stotterns, Entwicklung und Ausformung der psychosozialen Folgeproblematik, Nichtheilbarkeit des Stotterns im Jugendund Erwachsenenalter, aber hohes Maß an Veränderbarkeit der Stottersymptomatik, sowie den Punkt Stottertherapie als „Do-it-Yourself-Projekt“ (Starbuck 1993, S. 119).
Abbau der psychosozialen Folgeproblematik des Stotterns
Der von der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe formulierte Satz „Das Schlimmste am Stottern ist die Angst davor“ verdeutlicht, dass Stottern häufig sehr viel mehr als nur den gestörten Sprechablauf beinhaltet. Zur Veranschaulichung der Mehrdimensionalität des Stotterns prägte Sheehan bereits 1970 das Bild eines Eisbergs, dessen sichtbarer Teil oberhalb der Wasseroberfläche den meist deutlich kleineren Anteil darstellt. So machen auch für viele Betroffene die hörund sichtbaren Symptome den vergleichsweise geringeren Teil der Gesamtproblematik aus. Der nicht sichtbare Bestandteil des Eisbergs entspricht den inneren Symptomen des Stotterns wie Emotionen (Ängste, Schamgefühle, Frustrationen u. a.), Kognitionen (negative Wahrnehmungen, Erwartungen und Bewertungen u. a.) und Verhaltensweisen (sprachliche und soziale Vermeidungsformen u. a.), die für Außenstehende nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Unsere Erfahrungen decken sich mit den Ergebnissen vieler Studien, die aufzeigen, dass Betroffene nicht selten Formen einer sozialen Phobie oder generalisierten Angststörung entwickeln (von Tiling 2010, S. 292; Wendlandt 2010). So entspricht die ausgeprägte Angst etlicher Stotternder vor dem Telefonieren mit Fremden bzw. vor dem Ansprechen Fremder den Kriterien der Sozialen Phobie nach DSM-IV (APA 1994). Baumgartner (2012, S. 8) stellte in diesem Zusammenhang fest, „dass die Prävalenzrate für eine soziale Phobie von 40 % bei erwachsenen Personen, die stottern, gegenüber einer 4 %-Rate bei nichtstotternden Menschen beachtlich ist“. Zudem zeigen sich bei nicht wenigen unserer Patienten psychosomatische Folgeerkrankungen. In diesem Zusammengang ist es nachvollziehbar,
dass die verdeckten Symptome des Stotterns maßgeblichen Einfluss auf die Lebensgestaltung und Lebensqualität der Betroffenen nehmen können (Natke & Alpermann, 2010). Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die psychosoziale Problematik in die Therapie des Stotterns umfassend und intensiv mit einzubeziehen.
Dabei ist es u.a. von zentraler Bedeutung, dem Betroffenen zu einem möglichst offenen und selbstbewussten Umgang mit seinem Stottern in sämtlichen relevanten Lebensbereichen zu verhelfen. Dies ist nach unserer Ansicht unabdingbar, da aufgrund der in Fachkreisen anerkannten Nicht-Heilbarkeit des Stotterns im Jugend- und Erwachsenenalter selbst nach einer sehr erfolgreichen Therapie von einer verbleibenden Restsymptomatik auszugehen ist und auch Betroffene mit einer vergleichsweise geringen sprachlichen Symptomatik einen hohen subjektiven Leidensdruck aufweisen können.
Außerdem zeigen die klinischen Erfahrungen, „dass ohne eine Reduzierung der Angstsymptome keine dauerhafte Verbesserung der Sprechflüssigkeit möglich ist“ (von Tiling, 2010, 292). Das traditionellen Fluency-Shaping-Ansätzen zugrunde liegende gedankliche Modell „Wer flüssiger spricht, hat keine Angst“ stellt nach Meinung der Autoren eine stark simplifizierte Sichtweise dar, die einer fehlerhaften Logik folgt und der Komplexität der Stotterproblematik nicht gerecht wird.
Von daher muss der Abbau der stotterspezifischen psychosozialen Folgeproblematik auf sprachlich-kommunikativer, emotional-kognitiver, situativ-personenbezogener, verhaltensbezogener und sozialer Ebene Gegenstand der therapeutischen Intervention sein, wobei sich die unterschiedlichen Ebenen wechselseitig beeinflussen und in der therapeutischen Arbeit nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen sind.
Abbau des verbalen Vermeidungsverhaltens
Um den Therapieteilnehmern zu verdeutlichen, dass Vermeidungsstrategien maßgeblich für die Verstärkung und Aufrechterhaltung von negativen Emotionen und Kognitionen verantwortlich sind, wird ein lerntheoretisches Modell genutzt. Stottern und die Reaktionen darauf sind gewissermaßen über lange Zeit hinweg erlernte Verhaltensweisen. Folgerichtig kann sich der Abbau derselben nur über (möglichst konsequentes) Nicht-mehr-Vermeiden auf verbaler, situativer und personenbezogener Ebenen vollziehen. Dabei ist der Fokus zuerst auf den (möglichst) vollständigen Abbau des sprachlichen Vermeidungsverhaltens im Therapieraum gerichtet.
Im ersten Schritt wird den Therapieteilnehmern verdeutlicht, dass Betroffene in diesem Altersbereich in aller Regel über die generelle Fähigkeit verfügen, Stotterereignisse im Vorfeld zu antizipieren. Diese auch als vorzeitige Symptomwahrnehmung bezeichnete Fähigkeit nutzen viele Betroffene, um ihr Stottern – oft unbewusst – durch diverse sprachliche Vermeidungsformen so weit wie möglich zu verbergen. Hierzu zählen das Ersetzen, Auslassen und Umschreiben von stottergefährdeten Wörtern sowie auch diverse Aufschubformen, die darauf abzielen, die Realisierung des Zielwortes so lange hinauszögern, bis es (zumeist) flüssig gesprochen werden kann. Füllwörter, Wort- und Satzteilwiederholungen, ungefüllte Pausen, Atemvorschub oder Schlucken sind Beispiele für Aufschubformen, die u. a. auf einer im Rahmen der Bonner Stottertherapie erstellten Identifikations-DVD modellhaft vorgestellt und in ihrer Funktion erläutert werden. Jeder Therapieteilnehmer identifiziert auf dieser Basis seine individuellen verbalen Vermeidungsstrategien, die er im Folgenden – anfänglich mithilfe der sogenannten Strichliste – konsequent abbaut. Dieses Vorgehen erweist sich als therapeutisch sehr hilfreich zur Schärfung der vorzeitigen Symptomwahrnehmung, indem der Therapieteilnehmer lernt, (möglichst) jedes Stotterereignis bereits im Vorfeld durch einen Strich auf der Liste anzuzeigen.
Parallel hierzu wird das sogenannte Primäre Stottern erarbeitet, das sich u.a. durch Stottern am Artikulationspunkt auszeichnet. Grundlage hierfür ist zunächst einmal die Identifikation der weiteren relevanten individuellen Sekundärsymptomatik (orofaciale/ gesamtkörperliche Ankämpfreaktionen und Mitbewegungen u. a.) anhand der eigenen Video-Erstaufnahme.
Die Identifikation zielt vor allem darauf ab, eine größtmögliche Sensibilität für sprech-und stottermotorische Abläufe zu erarbeiten, die Funktionalität des eigenen Stotterverhaltens verständlich zu machen, die Eigenverantwortlichkeit herauszustellen („Selbst wenn Du nicht die Wahl hast, ob Du stotterst oder nicht, so hast Du doch die Wahl hast, ob Du stotterst oder nicht, so hast Du doch die Wahl, wie Du stotterst“; Murray 1993, S. 38) sowie das Stottern zu versachlichen.
Des Weiteren werden als Grundlage des Primären Stotterns basale phonetische Kenntnisse vermittelt, die unter taktilkinästhetischen und propriozeptiven Aspekten sofort sprechmotorisch umgesetzt werden. Beim Primären Stottern ist es nunmehr das Ziel, jedes Stotterereignis im Vorfeld wahrzunehmen, durch einen Strich anzuzeigen und sofort – ohne jegliches Vermeiden oder Aufschieben – am Artikulationspunkt mit Blickkontakt zu stottern. Dies führt dazu, dass bei vielen Therapieteilnehmern die Zahl an offen gezeigten Stotterereignissen deutlich zunimmt. Dies wirkt sich positiv auf die Desensibilisierung aus; Ferner wird ein weitgehender bis vollständiger Abbau von orofacialen und gesamtkörperlichen Ankämpfreaktionen und Mitbewegungen vollzogen, sowie eine (zumindest situativ) lockerere Form des Stotterns in Form von Silbenwiederholungen möglich. Unsere Erfahrungen zeigen jedoch, dass etliche Betroffene aufgrund hoher stottermotorischer Grundspannung eine spannungsarme Form häufig nicht realisieren können. Somit erweist sich das Primäre Stottern im Wesentlichen als Desensibilisierungstechnik, da es aufgrund mangelnder Kontrollsicherheit keine zuverlässige Modifikationstechnik darstellt. Dies ist im Rahmen des Abbaus der psychosozialen Folgeproblematik aber auch nicht das gewünschte Ziel.
Offenheit
Häufig wird Stottern durch die oft damit einhergehenden negativen Emotionen und Kognitionen tabuisiert, wodurch ein konstruktiver Umgang damit für alle Beteiligten erschwert wird. Von daher besteht ein zentrales Therapieziel darin, dass jeder Patient mit seinen wichtigen Sozialpartnern offen über die eigene Stotterproblematik und die Therapie spricht. Denn Enttabuisierung schafft Klärung und Entlastung. Vor allem aber ist eine derartige Offenheit als grundlegende Voraussetzung für einen langfristig erfolgreichen Therapieverlauf anzusehen. Denn sämtliche angestrebten sprachlichen Veränderungen – sei es „Stottern zeigen“ oder die Anwendung von Sprechtechniken – gehen zumindest anfangs mit einer deutlichen Auffälligkeit einher. Ein erfolgreicher Transfer derselben ist meist nur durch offenes Thematisieren möglich. Somit kann Offenheit als grundlegend für eine erfolgreiche Transferleistung angesehen werden. Wesentliche Bereiche für das Training eines offenen Umgangs mit dem Stottern und dessen Therapie ist das private Umfeld, aber insbesore auch der Bereich Schule / Ausbildung & Beruf. Hierfür werden die Sozialpartner oder Lehrer, Mitschüler, Arbeitskollegen durch den Betroffenen und seinen Therapeuten in den therapeutischen Prozess so gut wie möglich eingebunden (Aufklärung, Informationsvermittlung, Klärung offener Fragen, etc.). Im beruflichen und schulischen Umfeld kann dies beispielsweise durch einen Schul- und Berufsvortrag erfolgen, der vom Betroffenen mit dem Therapeuten erarbeitet und dann vorgestellt wird.
Abbau von negativen Emotionen und Kognitionen sowie von Vermeidungsverhalten bei fremden Personen
Da für Betroffene die stotterspezifische Angst sicherlich als die zentrale negative Emotion angesehen werden kann, wird diese im Folgenden stellvertretend für andere genannt. Die Reduzierung von Scham und anderen Emotionen verläuft therapeutisch nach den gleichen Prinzipien, erstreckt sich aber nach den Erfahrungen der Patienten oft über einen längeren Zeitraum.
Da Vermeidung aus lerntheoretischer Sicht eine angstverstärkende und aufrechterhaltende Bedingung ist, wird der Patient in der sogenannten Konfrontationstherapie mit den angstauslösenden Reizen konfrontiert. Dieses auch als Expositionsbehandlung bezeichnete Vorgehen gehört zu den klassischen Verfahren der Verhaltenstherapie, das sich neben der unterschiedlichen Modalität – in sensu (in der Vorstellung) und in vivo (in der Realität) – in der Art der Herangehensweise unterscheidet: Während bei der graduellen Methode ein abgestuftes Vorgehen in kleinen Schritten praktiziert wird, werden bei der massierten Konfrontation (auch Flooding/(Reiz)Überflutung) nach einer gezielten Vorbereitung Kommunikationssituationen mit einem (sehr) hohen Angstwert in einem klar strukturierten Ablauf so lange durchlaufen, bis ein deutlicher Abbau der negativen Emotionen eingetreten ist (Walter 2004–2009).
Die massierte Konfrontationstherapie in vivo hat sich u.a. bei sozialen Phobien sehr bewährt und ist häufiger Bestandteil in psychotherapeutischen Behandlungen von Angststörungen (Walter, 2004–2009, Fehm & Wittchen, 2005) und kommt auch im Rahmen der Bonner Stottertherapie seit langer Zeit zur Anwendung. Ein zwar therapeutisch geradliniges und konsequentes, aber behutsames und einfühlsames Vorgehen erachten wir dabei als unabdingbar.
Modifikationstechnik: Stotterkontrolle
Grundlegende Gedanken
Bei der Stotterkontrolle handelt es sich um eine lokale Technik, die wie alle Modifikationstechniken darauf abzielt, das einzelne Stotterereignis gezielt zu bearbeiten. Die nicht vom Stottern betroffenen Sprechanteile können spontan gesprochen werden. Im Gegensatz zu Blocklösetechniken, bei denen ein bereits eingetretenes Symptom kontrolliert beendet werden soll, hat die Stotterkontrolle das Ziel, das Stotterereignis bereits im Vorfeld zu antizipieren und vor seinem eigentlichen Auftreten mithilfe der Technik kontrolliert flüssig zu gestalten.
Bei der Konzeptfindung der Bonner Stottertherapie wurde seinerzeit mit unterschiedlichen Modifikationstechniken gearbeitet, woraus vor fast drei Jahrzehnten die Stotterkontrolle entwickelt wurde. Sie basiert auf dem leisen und weichen Stimmeinsatz, bei dem die Stimmbänder sanft und kontrolliert in Schwingung versetzt werden, wodurch die Auftrittswahrscheinlichkeit stottermotorischer Spannung sehr deutlich reduziert wird. Nach unseren Erfahrungen mit über 1000 stotternden Patienten erweist sich die Stotterkontrolle als sehr effiziente Modifikationstechnik, da sie viele Vorteile vereint.
Als flüssige Kontrolltechnik bietet sie den meisten Stotternden auch in anspruchsvollen Kommunikationssituationen ein hohes Kontrollgefühl. Für sämtliche Altersbereiche wie auch für Menschen mit besonderem Förderbedarf stellt sie als leicht erlernbare Methode eine einfach anzuwendende Kontrolltechnik dar. Durch ihre Individualisierbarkeit und Alltagstauglichkeit findet sie zudem eine sehr hohe Akzeptanz bei den Therapieteilnehmern. Die positive Beurteilung des Wirkmechanismus der Stotterkontrolle teilen auch andere Stottertherapeuten und berücksichtigen diesen im Rahmen von lokalen und globalen Techniken in ihren Konzepten (Zückner, 2008, Thum, 2013).
Regeln
Die Stotterkontrolle stellt eine leicht operationalisierbare Kontrolltechnik dar, die lautübergreifend aus wenigen und einfachen Regeln besteht:
› Pause vor jedem Stotterereignis
Diese dient der Vorbereitung auf den neuen Bewegungsablauf und der bewussten Phonation mit einer leisen und weichen Stimme.
› Leiser und weicher Stimmeinsatz
Die Stimmbänder werden mit kleinstmöglicher Amplitude in Schwingungen versetzt.
› Dehnung des entsprechenden Vokals (anfangs eine Sekunde) Die anfangs leise Stimme wird gleichmäßig bis zur normalen Lautstärke gesteigert.
› Leichte und weiche Artikulationskontakte mit stotterantizipierten Konsonanten(verbindungen)
Weiterführende Gedanken
Stottermodifikation ist nach Auffassung der Autoren als der grundlegende Ansatz in der Therapie des Stotterns im Jugendund Erwachsenenalter zu verstehen, da er in seinem umfassenden Verständnis der Gesamtproblematik sowohl auf den Abbau der psychosozialen (Folge-)problematik als auch auf die flüssige(re) Gestaltung von antizipierten und real auftretenden Stotterereignissen ausge richtet ist. Nach unseren klinischen Erfahrungen sind die im Rahmen der Stottermodifikation vermittelten Inhalte für etliche Betroffene ausreichend, um zu einem langfristig guten Behandlungserfolg zu gelangen.
Doch wie jeder Ansatz hat auch dieser seine Grenzen. Gerade für Betroffene mit einer hohen Stotterrate erweisen sich Modifikationstechniken als unzureichend, vermitteln sie doch lediglich die Möglichkeit, jedes einzelne der gehäuft auftretenden Stotterereignisse zu bearbeiten. Die fortwährende Bearbeitung derselben gestaltet sich sprechmotorisch sehr mühsam, erweist sich kaum alltagstauglich und lässt kein Gefühl von Sprechfluss aufkommen.
Auch Stotternde mit einer nicht ausreichenden Symptomwahrnehmung finden über Modifikationstechniken wenig Kontrolle (wie sollen sie auch, wenn sie Stottern kaum bemerken). So finden sich etliche Therapieteilnehmer, die sich bei Vorliegen einer derartige Ausgangslage am Ende der Stottermodifikationsphase hinsichtlich der erreichten Sprechflüssigkeit nachvollziehbar unzufrieden äußern. Gerade für dieses Klientel stellen Fluency-Shaping- Techniken nach Auffassung der Autoren eine unerlässliche Ergänzung dar.
Fluency Shaping: Sprechkontrolle
Wie alle globalen Techniken verfolgt die Sprechkontrolle – als Fluency-Shaping- Technik der Bonner Stottertherapie – das Ziel, das Auftreten von Stotterantizipationen und Stotterereignissen durch Modifikation des gesamten Sprechmusters möglichst zu unterbinden und ein kontrolliert flüssig(er)es Sprechen zu ermöglichen. Die Fluency-Shaping-Richtung wird häufig dahingehend kritisiert, dass
› der Stotterer nicht zu lernen braucht, wie man flüssig spricht, da ihm dies bereits häufig möglich ist; von Bedeutung ist vielmehr, was er Sinnvolles tun kann, wenn er stottert (Van Riper, 1986);
› „der Preis, diese flüssigen Anteile durch eine Sprechtechnik (Fluency Shaping) zu überlagern, (…) unverhältnismäßig hoch zu sein [scheint], zumal das Ergebnis sehr auffällig ist (...)“ (Rauschan & Welsch, 2008, 6);
› eine individuelle Therapie nicht möglich ist, da alle Betroffenen nach einem festgelegten Programm behandelt werden (Decher, 2011);
› „(...) die in nahezu allen Therapien auftretenden Rückfälle bei den rein auf Sprechflüssigkeit abzielenden Therapien oft einen Kreislauf von Selbstabwertung und von Vertrauensverlust in die Sprechtechnik in Gang setzen, der einen langfristigen Therapieerfolg verhindert“ (Zückner, 2012, S. 65);
› es im Wesentlichen um die Anzahl der gestotterten Wörter pro Zeiteinheit geht und unerheblich erscheint, wie zufrieden der Patient ist (Decher, 2011);
› das Bemühen um ein möglichst flüssiges Sprechen das verbale Vermeidungsverhalten fördern und hierdurch die psychosoziale Belastung zunehmen kann (Prüß, 1996);
› „(...) die in nahezu allen Therapien auftretenden Rückfälle bei den rein auf Sprechflüssigkeit abzielenden Therapien oft einen Kreislauf von Selbstabwertung und von Vertrauensverlust in die Sprechtechnik in Gang setzen, der einen langfristigen Therapieerfolg verhindert“ (Zückner, 2012, S. 65).
Wir sehen diese Kritikpunkte bezogen auf klassische Fluency-Shaping-Ansätze, wie sie auch in Deutschland vertreten werden, weitgehend als berechtigt an. In derartigen rein sprechtechnisch orientierten Programmen durchlaufen alle Therapieteilnehmer gleichermaßen dasselbe festgelegte Programm, „egal ob sie schwer stottern oder leicht, ob sie häufig stottern oder selten“ (Decher, 2011, S. 31). Als besonders kritikwürdig erscheint uns in derartigen Konzepten auch, dass die individuelle Problematik – beispielsweise auf psychosozialer Ebene – nicht die notwendige therapeutische Berücksichtigung findet. Ein patientenorientiertes Vorgehen ist somit bei diesen Ansätzen nahezu ausgeschlossen.
Die Philosophie klassischer Fluency- Shaping- Vertreter, dass sich aus einer Steigerung der Sprechflüssigkeit automatisch eine Verbesserung der Lebensqualität ergibt, missachtet durch eine stark simplifizierte Sichtweise die Komplexität des Störungsbildes Stottern. Schon 1984 stellte Sheehan fest: „Defining stuttering as a fluency problem borders on professional irresponsebility. It ignores the person; it ignores his feelings about himself; it ignores the significance of stuttering in his life“ (S. 226).
Integriert man allerdings – wie die Bonner Stottertherapie – die Fluency-Shaping- Technik in ein entsprechendes Gesamtkonzept, kommen die genannten Kritikpunkte nicht zur Geltung. Vielmehr zeigen unsere Erfahrungen, dass die Sprechkontrolle als Fluency-Shaping-Technik für zahlreiche Therapieteilnehmer sehr positive Effekte hat: Neben Betroffenen mit einer hohen Stotterrate bzw. nicht ausreichender Symptomwahrnehmung profitieren auch Therapieteilnehmer mit einer geringeren Symptomhäufigkeit in einem hohen Maße von der Fluency-Shaping-Technik, da sie ihnen ein zuvor nicht erlebtes Gefühl von Flüssigkeit, Kontrolle und Entspannung im Sprechen ermöglicht. So erlebt ein großer Teil der Patienten die Sprechkontrolle nach Therapieende als zentrale Kontrolltechnik.
In dem Konzept der Bonner Stottertherapie erfolgt die Vermittlung der Fluency- Shaping-Technik erst nach der Bearbeitung der psychosozialen Folgeproblematik und dem Erwerb der Modifikationstechniken, sodass zuvor sowohl ein selbstbewusster Umgang mit der Stotterproblematik als auch die Fähigkeit zur Verflüssigung von Stotterereignissen erarbeitet wurde. Wie auch Thum (2013, S. 96) sind wir grundlegend davon überzeugt, „dass Sprechtechniken nur dann nachhaltig wirken, wenn dem Patienten eine umfassende Phase der Desensibilisierung zum Abbau von Sprechängsten und Schamgefühlen angeboten wurde.“
Unsere Erfahrungen belegen, dass nicht alle Betroffenen von der Fluency-Shaping- Technik profitieren oder diese sogar kontraindiziert sein kann, weswegen wir im Gegensatz zu anderen Therapiekonzepten nicht allen Therapieteilnehmern eine solche Technik vermitteln. Die Frage nach der Indikation wird in gemeinsamen Gesprächen zwischen Therapeut und Patient diskutiert und entschieden.
Regeln
Der Aufbau der Sprechkontrolle erfolgt von einem anfangs stark verlangsamten Sprechen über mehrere Stufen hin zu einem möglichst natürlichen Sprechtempo. Folgende Regeln gelten gleichsam für alle Stufen (Abb. 6):
› Strukturiertes Sprechen Die geplante Äußerung wird in inhaltlich sinnvolle Abschnitte (Sinnabschnitte) aufgeteilt, wobei über den Verlauf der Stufen die Anzahl der Wörter pro Sinnabschnitt von anfänglich einem Wort zu einer beliebigen Wortanzahl erhöht wird. Für die Gestaltung jedes einzelnen Sinnabschnitts gelten folgende Regeln:
› Weicher Stimmeinsatz Die erste Silbe eines jeden Sinnabschnitts wird mit einem weichen Stimmeinsatz gebildet, um einen kontrollierten und flüssigen Einstieg zu finden.
› Prolongiertes Sprechen Neben der ersten Silbe wird im weiteren Sinnabschnitt auch der gesamte Rest unter Berücksichtigung eines möglichst natürlichen Betonungsmusters gedehnt. Im Verlauf der Stufen wird diese Dehnung zunehmend verringert.
› Durchgängige Phonation Ziel ist ein gebundenes Sprechen ohne Pausen zwischen den einzelnen Silben und Worten. Im Sinne größtmöglicher Natürlichkeit ist es uns dabei u.a. wichtig, dass stimmlose Frikative und Plosive weiterhin stimmlos gesprochen werden.
› Leichte Artikulationskontakte Um dem Stottern möglichst keine Angriffsfläche zu bieten, werden die Konsonanten, insbesondere die Plosive, mit reduziertem Artikulationsdruck gebildet.
Weiterführende Gedanken
Die nach Therapieende erarbeitete Verfügbarkeit von selbstbewusstem Umgang mit dem Stottern, Modifikationstechniken und der Fluency-Shaping-Technik eröffnet dem Therapieteilnehmer eine Vielzahl von Möglichkeiten. So verwenden einige in der Alltagskommunikation schwerpunktmäßig die Sprechkontrolle, andere vor allem die Stotterkontrolle und wieder andere finden ihren primären Zugang in einem selbstbewussten Stottern. Die Mehrzahl allerdings findet ihren optimalen Weg in einem Wechsel zwischen den einzelnen Sprechformen – abhängig beispielsweise von Situation, Gesprächspartner und Kontrollbedürfnis.
Rückfallprophylaxe
Da sich Stottern durch eine sehr hohe Rezidivgefährdung auszeichnet (Wendlandt, 2010), kommt der Stabilisierung der neuen Sprech-, Erlebens-, Denk- und Verhaltensweisen eine besondere Bedeutung zu. Von daher ist auch diese Thematik ein zentraler Baustein der Bonner Stottertherapie, dem durch die zwei Nachbehandlungen von jeweils einer Woche Rechnung getragen wird. Innerhalb sämtlicher vier Behandlungsmodule erhalten die Therapieteilnehmer umfassende Informationen zur Rückfallthematik. Zudem werden individuelle Strategien zur Rückfallprophylaxe sowie Rezidivbewältigung erarbeitet, die durch diverse unterstützende Materialien zur Fortführung der eigentherapeutischen Arbeit ergänzt werden.
Nach Beendigung der stationären Maßnahme besteht außerdem für jeden Therapieteilnehmer die Möglichkeit, durch Telefonkontakte, zusätzliche Auffrischungstage oder durch die Teilnahme an teletherapeutischen Treffen innerhalb eines mittlerweile bundesweiten Netzwerks Unterstützung zu finden. Auch die Kontaktaufnahme zu Selbsthilfegruppen am Heimatort wird individuell angeregt.
Fazit
Aufgrund der hohen Individualität und Komplexität des Störungsbildes Stottern sehen die Autoren die Notwendigkeit eines Kombinationsansatzes gegeben, der die beiden bewährtesten Therapierichtungen Stottermodifikation und Fluency Shaping in einem Gesamtkonzept vereint. Auf dieser Basis stellt die Konzeption der Bonner Stottertherapie einen optimalen Zugang zu einem patientenorientierten Vorgehen dar, da jedem Therapieteilnehmer aus der Vielzahl unterschiedlicher Therapiebausteine, Techniken und Methoden eine individuell auf ihn abgestimmte Behandlung ermöglicht werden kann.
1 Thilo Müller, akad. Sprachtherapeut M.A., LVR-Klinik Bonn, Abteilung Neurologie – Bereich Stottertherapie, Kaiser-Karl-Ring 20, 53111 Bonn, Bundesrepublik Deutschland, E-Mail: thilo.mueller@lvr.de, Tel.: +49 (0)228 – 551 2866, Web: www.stottertherapie-bonn.de.
2 Holger Prüß, Dipl.-Sprachheilpädagoge, LVR-Klinik Bonn, Abteilung Neurologie – Bereich Stottertherapie, Kaiser-Karl-Ring 20, 53111 Bonn, Bundesrepublik Deutschland, E-mail: holger.pruess@lvr.de, Tel.: +49 (0)228 – 551 2866.
3 Kirsten Richardt, Dipl.-Sprachheilpädagogin, LVR-Klinik Bonn, Abteilung Neurologie – Bereich Stottertherapie, Kaiser-Karl-Ring 20, 53111 Bonn, Bundesrepublik Deutschland, E-mail: kirsten.richardt@lvr.de, Tel.: +49 (0)228 – 551 2866.
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